The Fateful Year of 1923 in the History of the Anthroposophical Society
GA 259
Translated by Steiner Online Library
Letter from Lia Stahlbusch to Rudolf Steiner
Dear Dr. Steiner,
Stuttgart, January 23, 1923
I thank fate for allowing me to attend yesterday's meeting and to gain insights into things that one may have felt for but not known in their reality.
For a long time now, I have felt the need for renewal in the Anthroposophical Society. I know that the icy coldness that prevails in it in the relationship between people is an expression of the wrong attitude, which results in fragmentation and cannot cope with the struggles outside. If we had lived by even a small portion of social principles, many attacks and perhaps the worst incident at New Year would have been avoided. Yesterday, I was forced to say that we are not authorized to make accusations against the leadership. I believe that this is impossible under the impact of the findings and facts and should only be done by the doctor. Yesterday evening might have yielded better results if, in addition to what the doctor had to say about the personalities of the board and their mistakes, we had also dealt with and expressed our own suggestions for consolidating the society. I had to ask myself whether it was a good idea to immediately name the three personalities who were nominated for the new election – whether it would not have been better to call for an unprejudiced new election in the relatively small circle without immediately singling out certain personalities, which would have immediately led to a position being taken. My immediate feeling that the society should not be led by three Waldorf teachers was confirmed by Dr. [...]. However, the group from which these proposals arose has, despite all their good intentions, shown that their potential leadership will also require supplementation. This consideration again made me realize how difficult it is to find the right board of directors, because we are all only more or less able to contribute, and it is only by complementing each other that we can become suitable. I therefore thought that a force like Dr. Unger, whose clear and decisive representation, which we have once again experienced on recent significant occasions, will be difficult to replace, and I thought that if a more fortunate addition were chosen instead of Mr. Uehli, the bureaucratization that we all feel bitterly about could be eliminated. So I asked for the re-election of Dr. Unger. I also wished to advocate the election of a woman to the board because I believe that women have a specific role to fulfill in society and that a representative on the board is necessary. I wanted to bring all this up yesterday, but it turned out that I could not speak. Allow me, dear Dr. Unger, to do so today, in this way. Not because I consider what was said important, but for the sake of clarification of what I said yesterday.
May I say a few words about religious renewal. I certainly do not want to deny that the board is to blame for the confusion among the members of the Anthroposophical Society. But each member had a greater responsibility for himself. For Dr. Unger had already touched on this sense of responsibility at the very beginning of the religious renewal. So, as a member of the Anthroposophical Society, I have to say to myself: If the doctor shows leniency towards us members of the Anthroposophical Society in this matter, then this leniency is more burdensome than the accusation against the leadership of our Society. This protection is proof of our immaturity. Many anthroposophical friends believed that they would receive esotericism through the ritual of the religious renewal - the longing for this is great. I also acknowledge this longing, although I know that esotericism could be found and that it is only my weakness that prevents me from finding it.
Oh, dear Dr. Schuessler, enthusiasm is there, but so much else is missing to make us suitable, and it is one of the most bitter sufferings to find ourselves unsuitable, as we did yesterday, when the doctor's call comes to us. — The heart is overflowing, but the hands that are supposed to do deeds are empty. — But I want to!
In deep admiration, Lia Stahlbusch
Briefe Von Lia Stahlbusch An Rudolf Steiner
Tiefverehrter Herr Doktor!
Stuttgart, 23.1.23
Ich danke es dem Schicksal, das mich teilnehmen ließ an der gestrigen Sitzung und mich Einblicke tun ließ in Dinge, die man wohl mitempfand, aber nicht in ihrer Realität kannte.
Lange schon empfinde ich die Notwendigkeit einer Erneuerung in der Anthroposophischen Gesellschaft, weiß ich, daß die Eiseskälte, welche darin herrscht in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, ein Ausfluß ist falscher Einstellung, die Zerstückelung zeitigt und die nicht den Kämpfen von draußen gewachsen sein kann. Hätten wir nur in einem kleinen Teile Soziales gelebt, es wären viele Angriffe und vielleicht auch das Schlimmste zu Neujahr unmöglich geworden. So zwang es mich gestern, zum Ausdruck zu bringen, daß wir nicht berechtigt sind, Anklagen dem Vorstand gegenüber zu erheben. Ich meine, dies sei unter der Wucht der Erkenntnisse und Tatsachen unmöglich und dürfte nur allein von seiten des Herrn Doktor geschehen. Der gestrige Abend hätte vielleicht bessere Früchte zeitigen können, wenn wir aufnehmend in uns das, was der Herr Doktor uns über die Persönlichkeiten des Vorstandes und ihre Fehler zu sagen hatte, wir unsererseits uns mit Vorschlägen zur Konsolidierung der Gesellschaft beschäftigt und ausgesprochen hätten. Ich mußte mich fragen, ob es gut war, sogleich die drei Persönlichkeiten zu nennen, die für die Neuwahl aufgestellt waren — ob es nicht besser gewesen wäre, zu unbefangener Neuwahl in dem verhältnismäßig kleinen Kreise aufzufordern ohne eine sofortige Herausstellung bestimmter Persönlichkeiten, wodurch sogleich in eine Stellungnahme hineingedrängt wurde. Mein sofortiges Empfinden, daß nicht drei Waldorflehrer an der Spitze der Gesellschaft stehen könnten, wurde durch Herrn Doktor bestätigt. Der Kreis, aus dem diese Vorschläge erwachsen sind, hat bei allem guten Wollen aber doch bewiesen, daß auch ihre eventuelle Leitung einer Ergänzung bedürfen werde. Diese Erwägung drängte mir wiederum die Einsicht auf, wie schwer es ist, den richtigen Vorstand zu finden, weil wir wohl alle nur mehr oder weniger Teilkräfte darstellen, die in der Ergänzung erst ein Geeignetes werden können. So meinte ich, daß eine Kraft, wie Herr Dr. Unger, dessen klares und entschiedenes Vertreten, das bei den letzten bedeutsamen Anlässen sich uns wiederum darlebte, schwer zu ersetzen sein wird, und ich wähnte, daß, wenn statt Herrn Uehli eine glücklichere Ergänzung gewählt würde, der von uns allen gewiß bitter empfundene Bürokratismus zu beseitigen wäre. So bat ich um die Wiederwahl des Herrn Dr. Unger. Auch wünschte ich einzutreten für die Wahl einer Frau in den Vorstand, weil ich glaube, daß die Frauen eine bestimmte Aufgabe in der Gesellschaft zu erfüllen haben und eine Vertreterin im Vorstand notwendig wäre. — Ich wollte dies alles gestern einbringen, es zeigte sich aber, daß ich nicht sprechen konnte. Gestatten Sie mir, tiefverehrter Herr Doktor, es heute zu tun, auf diesem Wege. Nicht weil ich das Gesagte für wichtig halte, sondern um der Klärung willen des gestern von mir Vorgebrachten.
Darf ich noch einige Worte bezüglich der religiösen Erneuerung sagen. Ich möchte gewiß nicht deuteln daran, daß den Vorstand eine Schuld an der Verwirrung unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft trifft. Die größere Verantwortlichkeit aber hatte wohl ein jedes Mitglied für sich selbst. Denn Herr Dr. Unger hatte dieses Verantwortlichkeitsgefühl gleich zu Anfang des Heraustretens der religiösen Erneuerung schon berührt. So muß ich mir als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft sagen: Wenn der Herr Doktor in dieser Angelegenheit Schonung walten läßt gegenüber uns Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, so ist diese Schonung belastender als die Anklage gegenüber der Leitung unserer Gesellschaft. Dieses Geschontwerden ist ein Beweis für unsere Unreife. Viele anthroposophische Freunde glaubten, in der religiösen Erneuerung durch die Kulthandlung Esoterik zu bekommen - die Sehnsucht hiernach ist groß. Zu dieser Sehnsucht bekenne auch ich mich, obgleich ich weiß, daß Esoterik aufzufinden wäre und nur meine Schwäche sie für mich nicht auffinden läßt.
Ach, tief verehrter Herr Doktor, Enthusiasmus ist da, aber so viel anderes fehlt, um uns geeignet zu machen, und es gehört zu den bittersten Leiden, sich so wie gestern ungeeignet zu finden, wenn des Herrn Doktors Ruf an uns ergeht. — Das Herz ist übervoll, aber die Hände, die Taten tun sollen, sind leer. - Aber ich will!
In tiefer Verehrung Lia Stahlbusch